Detlef Bimboes, Jochen Scholz: Eckpunkte für ein souveränes Europa – für die strategische Autonomie der EU

Die EU ist mit ihrer geopolitischen Politik in eine Sackgasse geraten, da sie sich für die Unterwerfung unter die Interessen der USA entschieden hat. Hier eine Alternative.

Detlef Bimboes und Jochen Scholz sind Mitglieder im Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin

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Die Souveränität und strategische Autonomie der EU umschließt sowohl die Ökonomie und
die mit ihr verbundenen Bereiche wie Wissenschaft und Technik als auch den der Außen-
/Sicherheitspolitik. Die nachstehenden Eckpunkte befassen sich im Wesentlichen mit der
Außen- und Sicherheitspolitik:

Der europäische Kontinent wurde seit Jahrhunderten von Gewalt, Krisen, Kriegen
und mehreren Weltkriegen mit ungeheuren Menschenopfern und Zerstörungen
durchschüttelt. Nach dem II. Weltkrieg sorgten Entspannungs- und Ostpolitik kurze
Zeit für Besinnung. Inzwischen droht der Ukraine-Krieg zum Vorboten neuen Unheils
zu werden. Erster und oberster Grundsatz einer realistischen Sicherheitspolitik muss
die Kriegsverhinderung sein. Es gilt mehr denn je: Der Frieden ist der Ernstfall. Jedes
alternative Sicherheitskonzept hat die Kriegsuntauglichkeit der europäischen
Industriegesellschaften in den Mittelpunkt zu stellen, denn im Falle eines großen
konventionell oder atomar geführten Krieges werden Industrie und
überlebensnotwendige Infrastrukturen größtenteils vernichtet und die Umwelt
großflächig vergiftet, zerstört und unbewohnbar. In industriell hoch verdichteten und
bewohnten Hightech Regionen ist der völlige Ausfall von Telekommunikationsnetzen
zur leitungsgebundenen und drahtlosen Datenübertragung absehbar.

Nach Auflösung des Warschauer Vertragsstaatensystems und dem Entstehen neuer
Staaten in Osteuropa bot Wunsch und Willen für ein Gemeinsames Haus Europa
einen Moment lang wieder eine der wenigen historischen Möglichkeiten, endlich und
dauerhaft Frieden einkehren zu lassen. Fundament dafür bot die Charta von Paris
(1990) als grundlegendes internationales Abkommen zur Schaffung einer neuen
friedlichen Ordnung in Europa. Europas Interessen liegen objektiv nicht nur in einem
friedlichen, kooperativen Miteinander der Völker und Staaten auf dem eurasischen
Kontinent, sondern auch mit denen Afrikas, Lateinamerikas und Nordamerikas. Nur
auf diesem Wege ist der globale Aufbruch in eine multipolare Welt zukunftsfähig und
friedlich möglich. Nur so lassen sich Bedrohungslagen verhindern und nicht mehr –
wie oft auch ethnische/religiöse Differenzen – für Krisen und Kriege
instrumentalisieren. Dazu wird es nicht nur zu einer völligen Änderung der EU-
Außen- und Außenwirtschaftspolitik kommen müssen, sondern auch der von vielen
Mitgliedstaaten bis hin zu deren Binnenpolitik. Anders lässt sich global kein Vertrauen
aufbauen.

Die Entwicklung seit der gescheiterten Umsetzung der Charta von Paris zeigt, dass
sie trotz Mitunterzeichnung dem globalen Hegemonieanspruch der USA diametral
zuwiderlief. Europas Interesse kann nicht verfolgt werden, so lange sich die EU dem amerikanischen unterordnet. Denn „Europas Interessen sind andere als die der USA“. Die Entwicklung seit 1990 mit der NATO-Osterweiterung, der Indo-Pazifik-Strategie, dem NATO-EU Kooperationsabkommen im Januar 2023 mit dem Vorrang der NATO sind schlagende Beweise dafür.

Wir brauchen weltweite wirtschaftliche Kooperation zum gegenseitigen Vorteil,
sowohl mit den USA als auch mit der Eurasischen Wirtschaftsunion, den BRICS-
Staaten, den Staaten Afrikas und denen des Mercosur und kein Abkoppeln von
China.

Die Bemühungen Chinas um eine engere wirtschaftliche Kooperation mit der EU
werden erfolglos bleiben, wenn sich die EU den globalen Hegemonialinteressen der
USA weiterhin zum eigenen Nachteil unterordnet. Hegemonialbestrebungen,
einseitige Abhängigkeiten und Handelsbeziehungen ohne gegenseitigen Vorteil sind
abzulehnen. Sie widersprechen auch nach Geist und Inhalt den Grundsätzen der
UNO.

Kein friedliches Europa ohne Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die
europäische Wirtschaftspolitik muss befreit werden vom „Shareholder Value“ und von
den Vorgaben des neoliberalen Finanzsektors. Europäische Souveränität bedeutet
auch mehr Eigenständigkeit in Hinsicht auf die Kontrolle und Verfügung über digitale
Technologien, Kommunikations- und Zahlungssysteme.

Die internationalistische Politik basiert auf vier Prinzipien: Frieden durch kollektive
(UNO) und gemeinsame Sicherheit, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit.

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit auf EU-Ebene heißt Austritt der einzelnen
Mitgliedstaaten aus den militärischen Strukturen der NATO, strikte
Verteidigungsdoktrin, absolute Bindung an das Völkerrecht und mithin strikte
Einhaltung des in der UN-Charta fixierten Gewaltverbots in den internationalen
Beziehungen, Einsetzen für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Aufgabe von
Atomwaffen.

Längerfristig Ablösung des Nato-Militärbündnisses durch ein eigenständiges,
nationalstaatlich organisiertes europäisches Bündnis- und Verteidigungssystem ohne
die USA. Verteidigungsplanung, Ausrüstung und Struktur der (Teil-)Streitkräfte in den
einzelnen Mitgliedstaaten der EU folgen dem Prinzip struktureller
Nichtangriffsfähigkeit und dem Grundsatz, dass die hoch industrialisierten Staaten letztlich nicht mit militärischen Mitteln, sondern nur gewaltfrei, zivil und sozial zu verteidigen sind. Ein Verteidigungssystem ohne die USA bedeutet deshalb nicht Aufrüstung in Europa, eine EU-Armee oder eine EU-
Atommacht. Die Bundeswehr bleibt eine Parlamentsarmee, deren Einsatz nur mit
Zustimmung des Bundestages möglich ist.

Für ein souveränes Europa ist eine eigenständige, auf den eurasischen Kontinent
gerichtete, Friedens- und Sicherheitsarchitektur unabdingbar. Sie ist auf Grundlage
einer erneuerten und erweiterten OSZE 2.0 ohne USA und Kanada, jedoch mit den
übrigen bisherigen Mitgliedern nach dem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit zu
entwickeln. Die bisherige Orientierung der OSZE auf den eurasischen Kontinent ist
um den angrenzenden Mittelmeerraum (Nordafrika, Naher Osten) zu erweitern.

Vor dem Hintergrund der Macht- und Gewaltgeschichte auf dem europäischen
Kontinent und den dafür verantwortlichen Großmächten ist es unabdingbar, dass bei
einer erneuerten und erweiterten OSZE 2.0 den Interessen der kleinen und mittleren
Staaten in besonderem Maße Rechnung getragen wird und diese zum Ausgleich
gebracht werden. Der Zusammenarbeit mit der „UN-Wirtschaftskommission für
Europa“ (UNECE) kommt hier eine wichtige Rolle zu. Das politische Ziel einer OSZE 2.0 richtet sich auf einen gemeinsamen Sicherheits-und Wirtschaftsraum „von Lissabon bis Wladiwostok“. Im Laufe dieses Prozessesverlieren wechselseitige Bedrohungslagen, Militär und Rüstung sukzessive an
Relevanz und werden bei Vollendung bedeutungslos.

Das Gewaltmonopol auf der Erde muss auf die UNO konzentriert, d.h. nationalen
oder Bündnisinteressen entzogen werden. Dafür muss die UNO demokratisiert
werden, denn sie wird heute dominiert von Atomwaffenstaaten, von denen einzelne
ökonomisch mächtig und die größten Rüstungs- und Rüstungsexportmächte sind.
Nachzudenken ist über eine Erweiterung des UN-Sicherheitsrats mit Blick auf die
wachsende Rolle des globalen Südens. Die zentrale Aufgabe der Vereinten Nationen
bleibt die Sicherung des Weltfriedens, das heißt Prävention, Streitbeilegung und
nachhaltige zivile Konfliktlösung auf der Basis des Völkerrechts. Truppen zur
Streitschlichtung werden nur auf Grundlage von Entscheidungen des UN-
Sicherheitsrats ohne Automatismus bereitgestellt.

Die Vereinten Nationen und das Völkerrecht sind die wichtigste Institution für die
friedliche Verständigung zwischen den Staaten und Gesellschaften der Erde.
Konflikte sind Hindernis für eine gemeinsame Zukunft auf dem Globus für Frieden,
Sicherheit, Umwelt, Klima und eine dauerhafte Entwicklung . Es gilt die Erde gänzlich von Kriegen und Waffengewalt zu befreien. Der UN-Vollversammlung und den NGOs muss mehr Kompetenz übertragen werden. Die UN-Institutionen sind finanziell so durch staatliche Beiträge zu stärken, dass sie nicht von
einzelnen Staaten oder privaten Institutionen abhängig werden.

Derzeit ist noch nicht abzusehen, wie und wohin sich die EU politisch-strukturell in
der Zukunft entwickelt. Denkbar ist ein Scheitern einer „immer engeren Union“ auch
vor dem Hintergrund möglichen globalen Einflussverlustes der USA und der
Entwicklung einer polyzentrischen Weltordnung. Perspektivisch könnte sich dann die
Frage ergeben, ob die EU in Form eines Nation-Centered Systems oder kooperativ-konföderal strukturiert werden sollte. Diese Frage sprengt das vorliegende Papier und bleibt einer gesonderten Debatte vorbehalten.

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