Hauke Benner: Energiewissenschaftler: Strom zu 100% aus Erneuerbarer Energie schon 2030 – weltweit! Wirklich?

Die Diskussion um die Beendigung der Klimakrise geht in zwei Richtungen: eine technische Lösung, die auf einem expansiven kapitalistischen Modell basiert, das von internationalen Konzernen finanziert wird; oder eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuorientierung, die auf mehr Gleichheit und Gerechtigkeit abzielt und die Ausbeutung der Ressourcen der Erde reduziert.

Hauke Benner ist ein ehemaliger Journalist und derzeit ein politischer Aktivist gegen den Klimawandel.

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In Dubai trafen sich vor wenigen Tagen Politiker aus Nordafrika und der arabischen Halbinsel mit Managern aus Industriekonzernen, die einen Teil des europäischen Strombedarfs aus nordafrikanischen und arabischen Erneuerbare-Energien-Grossanlagen decken wollen. Dieses Treffen war früher die vor 12 Jahren gegründete Desertec Industrial Initative, heute wird es Dii-Desert Energy genannt.

Eine Gruppe namhafter Energie- und Klimawissenschaftler aus drei Kontinenten hat anlässlich dieses Meetings ihren Vorschlag für eine „Globale Energiewende zu 100% Erneuerbare Energien“ der Weltöffentlichkeit vorgestellt.

Die Wissenschaftlergruppe präsentierte in Dubai einen 10-Punkte-Plan. In Kern fordern sie die umgehende 100%-Elektrifizierung der weltweiten (!) Stromproduktion durch erneuerbare Energien (RE).

In ihrer Presseerklärung schreiben sie: „Eine Welt auf Basis von 100 % Erneuerbaren Energien ist möglich, und wir sind in der Lage, das Energiesystem schnell genug zu transformieren, um die Klimakatastrophe zu vermeiden! Der Klimanotstand der Erde erfordert die Vollendung einer Null-Emissions-Wirtschaft viel früher als das allgemein diskutierte Jahr 2050. Als Ziel für die Beendigung unserer CO 2 – und anderer Klimaerwärmungs- und Luftschadstoffemissionen wird für den Stromsektor das Jahr 2030 und für andere Sektoren bald danach, idealerweise aber nicht später als 2035, vorgeschlagen.

Die Kernlösung, um diesen Zeitplan einzuhalten, besteht darin, alle Energie zu elektrifizierenoder direkt mit Wärme zu versorgen, und den Strom und die Wärme weltweit mit 100% sauberer, erneuerbarer Energie bereitzustellen.“ Die Wissenschaftler sind optimistisch, das Ziel in zu erreichen und dabei noch Millionen von neuen Arbeitsplätzen zu generieren. Dazu Prof. Seba vom Thinktank „RethinkX“ aus den USA: „ Die Schlussfolgerung ist klar: Ein globales

Energiesystem, das zu 100 % mit sauberer, erneuerbarer Energie betrieben wird, ist nicht nur in den nächsten 10-15 Jahren möglich, es kann auch Geld sparen, Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen, Leben retten und der Menschheit einen Vorsprung verschaffen, um einen außer Kontrolle geratenen Klimawandel zu verhindern. Es ist ökonomisch, sozial, geopolitisch und ökologisch unvernünftig, wenn wir die Zeit bis 2050 hinauszögern.”

In ihrem 10 Punkte-Plan stellen sie auf dem Hintergrund jahrzehnterlanger Forschungen ihre Thesen vor.

Auszüge:

4. Die gesamten sozialen Kosten (Energie-, Umwelt-, Klima- und Gesundheitskosten) eines 100%igen RE-Systems werden drastisch niedriger sein als bei “Business as usual”. Je früher wir ein 100%iges RE-System erreichen, desto schneller werden diese Einsparungen realisiert werden!

5. Ein 100%-RE-System kann Regionen, Länder und die Welt
zuverlässig (24-7) mit Energie zu niedrigen Kosten versorgen.

6. (…)

7. Solar und Wind werden die wichtigsten Säulen der Energieversorgung sein, plus Flexibilität in vielen Formen, insbesondere Speicherung, Sektorkopplung, Demand-Response-Management, Netzintegration im großen und kleinen Maßstab.

8. Die Studien sind sich einig, dass Strom einen massiv steigenden
Anteil (ca. 80-95%) an der globalen Energieversorgung einnehmen wird. Die Elektrifizierung wird zu einem Überfluss an billiger, sauberer und erneuerbarer Energie führen, die den Wohlstand für die gesamte Menschheit steigern wird.

So faszinierend ihre Thesen auf den ersten Blick scheinen, so problematisch sind die in den Thesen versteckten Details, besonders in These 7. Wenn wir davon ausgehen, dass es tatsächlich gelingen kann, den Strom im wesentlichen aus Photovoltaik und Wind weltweit zu produzieren, stellt sich sofort die Frage nach der weltweit fehlenden Speichertechnologie für die Zeiten, wenn kein Wind weht oder die Sonne nicht scheint. 100 % Erneuerbare Energie bedeutet eine vollständige Decarbonisierung. Und das heißt weder Kohle noch Gas noch die u. a. von Bill Gates favorisierte neue Atomtechnik.

Was bleibt? Wasserstoff!

Seit den letzten Jahr ist in Deutschland ein regelrechter Hype ausgebrochen, die Bundesregierung subventioniert die Entwicklung der Wasserstofftechnologie mit mehr als 9 Milliarden €. Denn das ist die von allen Großkonzernen aus dem Chemie- und Stahlsektor aber auch vielen Stromkonzernen wie der deutschen RWE-Gruppe favorisierte Speicher- und Prozesstechnologie. Der aus Wind und Sonne gewonnene Wasserstoff mittels des Stromeinsatz bei Elektrolyse des Wassers ist gasförmig hervorragend einsetzbar sowohl in der Stahl-, Zement- und Chemieindustrie aber auch in Gaskraftwerken, wenn die Sonne und Wind in der Stromerzeugung ausfallen. Dies ist in Mitteleuropa besonders in den Wintermonaten über Tage ein dickes Problem in der Stromproduktion. Bisher wird dann verstärkt Kohle und Gas eingesetzt (abgesehen von der Atomenergie z. B. in Frankreich).

Also Wasserstoff. Und deswegen haben sich die Wissenschaftler aus den USA, Europa und Australien die Konferenz von Dubai ausgesucht. Denn dort wurden die nächsten Schritte verabredet für den Aufbau riesiger Photovoltaik-Anlagen in den sonnenreichen Wüstenregionen Nordafrikas und Arabiens. Die Planungen gehen dahin, den Wasserstoff entweder vor Ort direkt zu produzieren sowohl zur Eigenverwendung wie aber auch zum Export.

Jedoch sind einige Probleme noch völlig ungelöst: Für den Export des Wasserstoffs müssen Spezialschiffe mit Druckbehältern und Kühlung gebaut oder der Strom in tausend Kilometer langen Gleichstromleitung nach Europa transportiert werden. Das größte Problem liegt aber in dem geringen Wirkungsgrad bei der Elektrolyse. Optimistische Berechnungen gehen von ‘nur’ 60% Energieverlust bei der Umwandlung von Strom in Wasserstoff aus. Beim Transport per Schiff kommen noch mal bis zu 25 % Verluste dazu. Schon bevor Wasserstoff als Energieträger tatsächlich eingesetzt wird, geht also ein erheblicher Teil der grünen Primärenergie verloren.

Das deutsche Fraunhofer-Institut hat ihrer Studie von 2020 allein für die Wasserstoffproduktion in Deutschland im Jahr 2035 die aus heutiger Sicht völlig irre Zahl 300 TWh aus Erneuerbaren Energien ausgerechnet. Wenn wir miteinbeziehen, das die RE schon 2030 einen Stromproduktionsanteil von 65% laut den Vorgaben der EU erreichen sollen, läuft das auf eine Verdoppelung bis Verdreifachung der heutigen Produktionskapazität der RE hinaus. Dafür gibt es in Deutschland weder die Flächen noch die Akzeptanz. Deshalb sprechen auch die Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts wie andere deutsche Energieforschungsinstitute vom notwendigen Import des Wasserstoffs aus anderen sonnenreichen Ländern. Und damit wären wir wieder beim Dii-Projekt. Und hier ist insbesondere zu fragen, inwieweit die dort lebenden Menschen von den zumeist diktatorischen Regimen gefragt werden, ob sie diese Grosstechnologie überhaupt haben wollen und die Landflächen dafür hergeben. Die alte Kritik an dem den ersten Plänen von Desertec ist immer noch aktuell: hier wird eine neue Form der kolonialistischen Eroberung vollzogen und die Europäer begeben sich in eine neue Importabhängigkeit von Staaten, die sich nun nicht gerade als die Hüter der Menschenrechte in der Vergangenheit hervorgetan haben.

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