Anna-Elisabeth Hampel, Eva Luise Krause: Was unsere Forschung über Plattformarbeit zeigt und wie sie reguliert werden sollte

Das Projekt “Chancengerechte Plattformarbeit” hat im Februar und März zwei Studien über die Beziehung zwischen Plattformarbeit und sozialer Ausgrenzung/Partizipation veröffentlicht. Die Autorinnen schreiben für das Gig Economy Project, fassen ihre Ergebnisse zusammen und erläutern, was die nächsten Schritte für das Projekt sind.

Anna-Elisabeth Hampel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin, Eva Luise Krause studentische Mitarbeiterin bei Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung.

Read the article in English here.

„Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich aufpassen muss, diesen Job nicht zu lange zu machen, weil ich sonst darauf hängen bleiben würde. Wenn ich meine Potenziale entfalten möchte, muss ich da so schnell wie möglich raus. Ich glaube, insgesamt ist das eher ein Beruf, der gesellschaftlich ausgrenzt.“ Vincent (Name geändert), Rider in Berlin, Interview 2023

Als Vincent vor einem halben Jahr anfing, nach seinem Umzug nach Berlin bei einem Lieferdienst zu arbeiten, brauchte er schnell einen Job, um in eine Krankenversicherung zu kommen.  Seinen beruflichen Zukunftsvorstellungen entspricht der Job aber ebenso wenig wie seinen Vorstellungen von fairen Arbeitsbedingungen. Zusammenhänge zwischen Plattformarbeit und gesellschaftlicher Ausgrenzung und Teilhabe stehen im Mittelpunkt des Projekts „Chancengerechte Plattformarbeit“ bei Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung. Gerade Menschen, die auf Plattformarbeit angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sind von prekären Bedingungen in der Plattformarbeit besonders betroffen. Und gerade für sie ist die Frage nach fairen Arbeitsbedingungen ein Schlüssel zu gesamtgesellschaftlicher Teilhabegerechtigkeit.

In unseren beiden ersten, nun erschienen Studien beschäftigen wir uns mit der Situation dieser Menschen – insbesondere in Deutschland –, mit den zukunftsweisenden Eigenschaften von Plattformarbeit und mit verschiedenen Ansätzen zu deren Regulierung. Dabei beziehen wir sowohl ortsgebundene als auch ortsungebundene Formen der Plattformarbeit mit ein. Für unsere Analyse haben wir bestehende wissenschaftliche Studien, Initiativen und Handlungsempfehlungen verschiedener Akteure aus Politik, Forschung, Gewerkschaften sowie Interessenverbänden von Plattformarbeiter*innen und Plattformbetreibern mit eigenen Erkenntnissen aus Interviews, Fachgesprächen und einer im Herbst 2022 durchgeführten Online-Befragung von Plattformarbeiter*innen zusammengebracht. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Inhalte der beiden Studien.

Digitalisierung, Flexibilisierung, Prekarisierung

Plattformarbeit ist – so zeigen wir es in unserer ersten Studie auf – nicht nur aufgrund des starken Wachstums der Plattformökonomie bedeutend, sondern auch, weil ihre wesentlichen Merkmale für die Zukunft der Arbeit wegweisend sein werden: Dazu gehören Digitalisierung und algorithmisches Arbeitsmanagement, Internationalisierung und die Aufteilung von Arbeit in Kleinstaufträge. Aus der Perspektive der Arbeiter*innen bedeutet dies, dass sich diese zunehmend in flexibilisierten und hybriden Beschäftigungskonstellationen befinden, Berufs- und Privatleben sich stärker überlappen und der soziale Faktor von Arbeit durch die kaum stattfindenden persönlichen Kontakte zu Kolleg*innen, Vorgesetzten und Kund*innen stark geschmälert ist. 

Dass in der Regel weder Plattformen noch Auftraggeber*innen sich bei plattformvermittelter Arbeit als Arbeitgeber sehen und ein Großteil der Plattformarbeiter*innen formell selbstständig ist, führt darüber hinaus zu starken Defiziten in der arbeits- und sozialrechtlichen Absicherung. Die unternehmerische und soziale Verantwortung wird auf die Plattformarbeiter*innen abgewälzt. Diese fallen als formell Selbstständige durch die Raster der arbeits- und sozialrechtlichen Sicherungssysteme, haben aber gleichzeitig oft nicht die Ressourcen unternehmerischer Eigenverantwortung und Verhandlungsstärke, die Selbstständigen in der Logik dieser Rechtssysteme zugerechnet werden. Plattformarbeiter*innen erhalten für ihre Stückarbeit häufig nur niedrige Vergütungen, sind stark von einer schwankenden Auftragslage abhängig und oft nicht sozial abgesichert. In einer von uns durchgeführten Online-Befragung forderten 64,4 % der befragten Plattformarbeiter*innen in Deutschland bessere Bezahlung oder mehr Regulierung von Bezahlung, 23,5 % eine bessere soziale Absicherung. Johanna Wenckebach, wissenschaftliche Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialforschung, spricht im Interview mit uns über die immense Gefahr für den fairen Interessensausgleich, die durch Ausnutzung technischer Innovation entsteht: 

„Das Prinzip, ohne Arbeitsverträge Arbeit in kleinstmöglichen Teilen zu vergeben, ist eine Verschärfung des kapitalistischen Systems durch Digitalisierung.“ Johanna Wenckebach, wissenschaftliche Direktorin des Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeits- und Sozialforschung der Hans-Böckler-Stiftung, Interview 2022

Hinzukommt, dass die Auswirkungen des bei der Plattformarbeit umfassend eingesetzten algorithmischen Arbeitsmanagements auf die Arbeitsbedingungen den Arbeiter*innen meist weder transparent noch von ihnen beeinflussbar sind. Dadurch entsteht eine Wissenshierarchie, die die Abhängigkeit der Arbeiter*innen von den Plattformen enorm steigert. Die starke Vereinzelung von Plattformarbeiter*innen und ihr Selbstständigenstatus führen außerdem dazu, dass sie sich schwer kollektiv organisieren können, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das durch diese Faktoren bedingte Machtungleichgewicht wird auch von den Plattformarbeiter*innen problematisiert. In unserer Umfrage äußerten 35,1 % den Bedarf, Auftraggeber*innen bewerten zu können (statt einseitig von diesen bewertet zu werden), 26,1 % sahen die Notwendigkeit unabhängiger Zitate über die Qualität und Arbeitsbedingungen bei Plattformen und 23,1 % würden gerne Interessenvertretungen gemeinsam die Rechte von Plattformarbeiter*innen verhandeln lassen. Zudem forderte ein Drittel der Befragten mehr Transparenz bei den algorithmischen Managementsystemen. 

Prekarität durch Abhängigkeit – Wen trifft es besonders?

Eine Unterwanderung des Arbeits- und Sozialrechtsystems in der Plattformökonomie zu verhindern, ist vor allem für diejenigen wichtig, die aufgrund ihrer Marginalisierung auf dem traditionellen Arbeitsmarkt von Plattformarbeit als Erwerbsform besonders abhängig sind. Dazu gehören u. a. Migrant*innen, Menschen mit Beeinträchtigungen oder (chronischen) Krankheiten, Menschen mit zu pflegenden Angehörigen oder einem hohen Maß an unbezahlter reproduktiver Arbeit (oft Frauen) und Menschen ohne (anerkannte) Qualifizierungen und Berufserfahrungen. Plattformen bieten ihnen eine Teilhabe am Arbeitsmarkt, vor allem durch einfache Einstiegsverfahren und das Versprechen zeitlicher und räumlicher Flexibilität. Wer von dieser Teilhabemöglichkeit aufgrund mangelnder Alternativen besonders abhängig ist, ist aber auch im Kontext der oft prekären Bedingungen der Plattformarbeit besonders vulnerabel. Bei niedrigqualifizierten, plattformvermittelten Tätigkeiten sind die Bezahlungen besonders gering und kaum langfristig planbar, die Konkurrenz groß und dadurch auch die einseitige Abhängigkeit von den (Bewertungen) der Auftraggeber*innen und den Bedingungen der Plattformen besonders stark. Das Versprechen zeiträumlicher Flexibilität wird mit der Abhängigkeit und dem Druck, ständig verfügbar zu sein, häufig obsolet. Dazu tragen auch die Überwachungs- und Anreizsysteme des algorithmischen Managements bei. 

Zudem haben marginalisierte Gruppen oft kaum Ressourcen, um ihre Rechte gegenüber Plattformen und Auftraggeber*innen durchzusetzen. Und weil Plattformarbeit kaum Möglichkeiten zur professionellen Weiterentwicklung, zur sozialen Vernetzung oder zum Spracherwerb bietet, stellt sie selten eine Brücke in stabilere Beschäftigungen dar. Es besteht also das Risiko, dass sich Ungleichheitsstrukturen in der Plattformarbeit reproduzieren. 

Das zeigen auch unsere Befragungen: Beispielweise gaben Frauen wesentlich häufiger an, Plattformarbeit vor allem wegen der Vereinbarkeit mit anderen Aufgaben (17,3 % im Vergleich zu 7,1 % bei Männern) oder mangelnder beruflicher Alternativen (13,3 % im Vergleich zu 5,5 % bei Männern) nachzugehen. Plattformarbeiterinnen können Plattformarbeit tendenziell weniger umfangreich betreiben als Männer, arbeiten häufig zu Randzeiten (abends/nachts) und erhalten dadurch auch weniger lukrative Aufträge und schlechtere Bezahlung. Anhand der Situation von Frauen und Migrant*innen in der Plattformarbeit haben wir den Zusammenhang zwischen Abhängigkeit und Vulnerabilität in unserer ersten Studie beispielhaft genauer dargestellt. 

Regulatorische Handlungsansätze

Dass regulatorischer Handlungsbedarf besteht, liegt auf der Hand. Bestehende Arbeits- und Sozialrechtssysteme werden den geschilderten, sich schon jetzt im immensen Wachstum befindenden Entwicklungen nicht mehr ausreichend gerecht. Dabei werden die regulatorischen Herausforderungen der Plattformarbeit auch die Zukunft einer flexibilisierten und digitalisierten Arbeitswelt insgesamt prägen. Wie also kann Plattformarbeit so reguliert werden, dass niedrigeschwellige und flexible Arbeitsmarktzugänge geboten werden, ohne dass dabei Arbeits- und Sozialrechte unterlaufen werden? Verschiedene Ansätze dazu haben wir in unserer zweiten Studie gegenübergestellt und analysiert. Dafür haben wir zehn wesentliche Handlungsfelder analysiert: 

  • Statusklärung
  • Soziale Sicherung
  • Bezahlung
  • Schutzregelungen und faire Arbeitsabläufe
  • Gerechte und transparente Verträge und Geschäftsbedingungen
  • Kommunikationsmöglichkeiten, kollektive Verhandlungsrechte und fairer Interessensausgleich
  • Transparenz und Kontrolle von algorithmischem Management
  • Anwendung von KI und Verarbeitung personenbezogener Daten
  • Melde- und Statistikpflichten
  • Weiterbildung, Qualifizierung und Zertifizierung
  • Internationale Regulierbarkeit

Die wichtigste und einfache Botschaft ist: Den einen regulatorischen Weg zu fairen Bedingungen in der Plattformarbeit wird es nicht geben. Während einerseits gesetzliche Initiativen auf die Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit abzielen und somit mehr Plattformarbeiter*innen unter den Schutz etablierter Arbeitnehmer*innenrechte stellen wollen, gilt es auf der anderen Seite, den sozialen Schutz von (echten) Solo-Selbstständigen zu verstärken, weil auch diese sich häufig in starken Abhängigkeiten befinden. Regulierungen des algorithmischen Managements, zu professionellen Weiterbildungen und mehr Transparenzpflichten werden hingegen so diskutiert, dass sie unabhängig vom Status der Arbeiter*innen Geltung finden könnten. Neben der Heterogenität der verschiedenen Formen von Plattformarbeit und der Beschäftigungssituationen, in denen sich Plattformarbeiter*innen befinden, müssen bei der Regulierung auch Überschneidungen mit anderen Arbeitsformen und Rechtsbereichen mitgedacht werden. Unsere Analyse fokussiert sich auf regulatorische Möglichkeiten für Plattformarbeit in Deutschland, wobei die internationale Dimension der Plattformökonomie immer beachtet wird.

In unserer Analyse haben wir uns aber nicht nur gesetzliche Initiativen wie die derzeit verhandelte EU-Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit und politische Positions- und Strategiepapiere z. B. vom deutschen Bundesministerium für Arbeit und Soziales, von Gewerkschaften, Sozialversicherungsträgern und Interessensverbänden und -vertretungen – sowohl von Plattformarbeiter*innen als auch von Plattformbetreibern – angeschaut. Auch sogenannte „weiche“ Regulierungsansätze sind Teil unserer Analyse. Diese sind eine wichtige Ergänzung zu gesetzlichen Regulierungen, gerade weil die Einigung auf grenzübergreifende Regulierungsstandards für die extrem internationale Plattformökonomie schwierig und langwierig ist, und bestehende Gesetze nicht genug umgesetzt werden. Weiche Regulierungsansätze umfassen sowohl Selbstverpflichtungen seitens der Plattformen wie z. B. den Code of Conduct für bezahltes Crowdsourcing/Crowdworking als auch Bewertungs- und Zertifizierungssysteme zu Arbeitsbedingungen bei Plattformen von unabhängigen Forscher*innen oder Gewerkschaften, wie das internationale Projekt Fairwork

Neben der Schaffung neuer Regulierungsinstrumente gilt es in allen beschriebenen Handlungsfeldern, bestehendes Recht durchzusetzen, auch angesichts der großen Dynamik, mit der Plattformen ihre Geschäftsmodelle sich ändernden Regulierungsrahmen anpassen können. Dafür bedarf es der nötigen Ressourcen und klaren Zuständigkeiten der Aufsichtsbehörden. Vor allem aber müssen Plattformarbeiter*innen zunächst besser über ihre Rechte informiert und bei der Durchsetzung dieser Rechte unterstützt werden, um das bestehende Ungleichgewicht, das zwischen ihnen und den Plattformen über Wissen, Ressourcen und Macht besteht, auszugleichen.

Was passiert als nächstes im Projekt Chancengerechte Plattformarbeit?

Um Bedarfe und Möglichkeiten zur Regulierung noch genauer herauszuarbeiten und die Perspektive der Plattformarbeiter*innen selbst in der Debatte um Regulierungen zu stärken, führen wir in diesem Jahr weitere Fokusgruppen und Interview mit Plattformarbeiter*innen durch. Im Fokus stehen dabei die Themen Soziale Sicherung und Interessenvertretungen. Wenn Sie als Plattformarbeiter*in Interesse haben, gegen eine Aufwandsentschädigung in Interviews und Fokusgruppen ihre Erfahrungen und Forderungen einzubringen, melden Sie sich gerne bei uns (a.hampel@minor-kontor.de). Die Ergebnisse fließen in weitere Veröffentlichungen und in Dialogverfahren mit verschiedenen Akteuren im Bereich Plattformarbeit ein. 

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung unserer beiden Studien:

Hampel, A.-E. / Krause, E. L., 2023: Plattformarbeit: Experimentierfeld für die Arbeit der Zukunft? Minor Kontor. https://minor-kontor.de/plattformarbeit-zukunft-der-arbeit/ (04.04.2023). 

Hampel, A.-E. / Krause, E. L., 2023: Plattformarbeit: Neue Arbeit, alte Regeln? Minor Kontor. https://minor-kontor.de/plattformarbeit-neue-arbeit-alte-regeln/ (04.04.2023). 

Die Studien sind in deutscher Sprache erschienen. Das Projekt wird gefördert von der Stiftung Mercator.

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