Hauke Benner – Klimaschutzgesetz verletzt die Freiheitsrechte der jüngeren Generation

Seit Jahren hat die politische Klasse Deutschlands die Austerität mit dem Vorwand gerechtfertigt: “Wir können nicht zukünftige Generationen mit Schulden belasten”. Für die gleichen Politiker in Bezug auf die CO2-Reduzierung war es, wie die Deutschen sagen, “Scheissegal”

Hauke Benner ist ein ehemaliger Journalist und derzeit ein politischer Aktivist gegen den Klimawandel.

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Bagger in Jänschwalde besetzt – klimareporter°
Ein von Demonstranten besetzter Kohlebagger im Braunkohletagebau in Jänschwalde, Deutschland

Klimapolitik in Deutschland zeichnet sich seit Jahren durch formelhafte Kompromisse, bürokratische Hürden und Verschiebung von überfälligen Grundsatzentscheidungen in ferne Zukunft aus. Die Große Koalition von CDU und SPD ist ein Meister darin, die verschiedenen Interessen mächtiger Lobbygruppen aus der Wirtschaft in scheinbar neutralen Gesetzen zu verstecken. So geschehen auch in dem aktuellen Klimaschutzgesetz, was 2019 in den beiden Parlamenten, Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde. Es sieht vor, dass bis 2030 der CO2-Ausstoß um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 reduziert werden muss. Für 2050 ist eine Null-Emission von CO2 anvisiert. Doch mit welchem Tempo in den verschiedenen Sektoren diese Reduktionen nach 2030 erreicht werden – das lässt das Gesetz völlig offen.

Damit konnte insbesondere die fossile Energiewirtschaft und die deutsche Autoindustrie wunderbar leben, wurden ihr doch im Vergleich zu den Forderungen aus der Klimawissenschaft und den Vorgaben der Pariser Beschlüsse von 2015 relativ moderate Übergangsfristen eingeräumt. Das business as usual konnte weiter gehen. Doch nun hat das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht dieses Klimagesetz in Teilen als verfassungswidrig eingestuft.

Aufgrund von Klagen verschiedener NGOs und Einzelpersonen, die der Bewegung Friday for Future nahestehen, hat das BVerG am 29.April ein aufsehenerregendes Urteil gefällt: Das aktuelle Klimaschutzgesetz verletze die Freiheitsrechte einer ganzen Generation.

Unter Bezugnahme auf den Grundrechtsartikel 20 a äußern die Richter, der Staat habe eine Schutzfunktion und das Gericht wendet – und das ist neu – diese auch auf den Klimawandel an: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Demnach sind laut den Verfassungsrichtern insbesondere die jungen Klägerinnen durch das Klimagesetz bedroht, wie z. B. eine der Beschwerdeführerinnen von der nordfriesischen Insel Pellworm, die 22-jährige Sophie Backsen, die auf einem knapp über dem Meeresspiegel liegenden Bauernhof lebt: “Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen in ihren Freiheitsrechten verletzt.” Schon jetzt stehen bei Sturmfluten regelmäßig Teile der Insel unter Wasser.

Diese Menschen seien heute und erst recht in der Zukunft vom Klimawandel betroffen, so die Richter. Der Staat müsse also Sorge tragen, dass die Grundrechte auch in fernerer Zukunft gewährt bleiben. Mit den natürlichen Lebensgrundlagen müsse sorgsam umgegangen werden. Und sie müssten der Nachwelt in einem Zustand hinterlassen werden, “dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten”.

Es kommt also auf die generationengerechte Verteilung der Emissionsreduktionsziele an. „Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde“, so das BverG.

Die Erwähnung des noch zur Verfügung stehenden CO2 Budgets ist ebenfalls neu in der Rechtsprechung der Verfassungsrichter. Denn anhand des Budgets lässt sich viel genauer berechnen, wie viel Zeit noch bleibt für die Einhaltung des 1.5 Grad-Ziels.

Laut dem Sonderbericht des IPCC zum 1,5-Grad-Ziel können, gerechnet ab Ende 2017, noch knapp 420 Gigatonnen (Gt) CO2 in die Atmosphäre abgegeben werden, um das 1,5-Grad-Ziel nicht zu verfehlen. Zugleich wird der jährliche Ausstoß von CO2 – durch Verbrennen fossiler Brennstoffe, Industrieprozesse und Landnutzungsänderungen – auf circa 42 Gt beziffert. Bei konstanten Emissionen wäre dieses Budget von jetzt ab gerechnet in weniger als sieben Jahren aufgebraucht. Das Budget von circa 1170 Gt für das Zwei-Grad-Ziel wäre in etwa 25 Jahren erschöpft.  

Unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des Pariser Klimaabkommens von 2015 stellen die Karlsruher Richter fest, dass die Menschheit nur noch ein sehr begrenztes CO2 Budget zur Verfügung hat, wenn das 2 Grad-bzw. 1.5 Grad- Ziel noch erreicht werden soll. Und das deutsche Klimagesetz bürdet der Generation nach 2030 eine „erhebliche Reduktionslast“ auf, ohne diese präzise auf die verschiedenen Sektoren zu verteilen. Hier fordert das Gericht von Gesetzgeber bis Ende 2022 eine deutliche Nachbesserung.

Zur Wahrung der Freiheitsrechte hätte der Gesetzgeber Vorkehrungen treffen müssen, „um diese hohen Lasten abzumildern“, urteilten die Richter. Außerdem verlangen sie „Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freiheitsschonenden Übergangs in die Klimaneutralität“. “Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu.” Und die Richter fordern von der Bundesregierung eine „vorausschauende“ Gesetzgebung und nicht wie das Klimagesetz, das die Freiheitsrechte einer gesamten jüngeren Generation verletze. In dieser Klarheit hat das noch kein bundesdeutsches Gericht gesagt.

Die Richter weisen allerdings daraufhin, dass zukünftig selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein könnten. “Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden”, so das Gericht. “Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind.”

In den kommenden Monaten, die im Zeichen der Wahlkampfs stehen, dürfte dieses Urteil noch für viel Aufregung sorgen. Es ist jedoch vorhersehbar, dass eine Verschärfung des Klimagesetzes erst von der neuen Bundesregierung nach der Bundestagswahl im September auf den Weg gebracht wird. Im Mittelpunkt dabei wird die Überarbeitung, insbesondere das zeitliche Vorziehen, des Kohleausstiegsgesetzes stehen. Denn die Mehrzahl der Braunkohlekraftwerke, die allein für die Hälfte der CO 2-Emissionen im Energiesektor verantwortlich sind, wird nach den bisherigen Planungen erst Mitte der 2030 Jahre abgeschaltet. Abgesehen von einer noch ausstehenden Entscheidung der EU-Kommission über die Subventionierung der Energiekonzerne in Milliardenhöhe für abgeschriebenen CO2-Schleudern, die das Kohleausstiegsgesetz für nicht „eu-konform“ erklären könnte, ist das eine dicke Kröte für den CDU-Kanzlerkandidaten Laschet, der als enger Freund des betroffenen RWE-Konzerns gilt.

Nach Verkündung des Urteils reagierten die Kläger’innen euphorisch. Als “bahnbrechend” bezeichnete einer in dem Verfahren beteiligten Anwälte Felix Ekardt, das Urteil. “Das ist die erste Umweltklage, die vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg hat”.

“Es ist ein unfassbar großer Tag für ganz viele und vor allem für die jungen Menschen, die seit drei Jahren für ihre Zukunft auf die Straße gehen”, sagte Luisa Neubauer von FfF. “Wir wurden belächelt, ausgelacht, diskreditiert – und jetzt spricht uns ein Gericht Recht zu.” Die Klimabewegung könne “jetzt mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein eine 1,5-Grad-Politik fordern”.

Zustimmung zu dem Urteil kommt auch aus der Wissenschaft: Die Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW, Claudia Kemfert, nannte es

“Luisa Neubauer hat absolut Recht. Das heutige Urteil ist historisch und
wegweisend und eine Niederlage für die Bremser in der Regierung, die den
die den Klimaschutz verlangsamen. Der Klimaschutz braucht
schnelles Handeln und duldet keinen Aufschub. Klimaschutz ist ein
Grundrecht, schafft Generationengerechtigkeit und Freiheit für alle. Das
Urteil schafft enorme wirtschaftliche Chancen für einen Neuanfang aus der
aus der Corona-Krise, denn es müssen Investitionen in erneuerbare
Energien, Energieeffizienz oder Elektromobilität. Investitionen in Zukunfts
Märkte schaffen enorme wirtschaftliche Chancen, Innovationen und
nachhaltige Arbeitsplätze.”

Klimaklagen haben auch in einigen anderen europäischen Ländern durchaus Erfolge zu verbuchen. Bereits im Jahr 2019 hat das oberste Gericht der Niederlande die Regierung dazu verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis Ende 2020 auf maximal 25 Prozent des Ausstoßes von 1990 zu senken. Damit hatte zum ersten Mal ein Gericht geurteilt, dass Versprechen, die eine Regierung im Rahmen des Pariser Klimaabkommens abgegeben hatte, auch vor Gericht durchsetzbar sind. Das Urteil hatte auch direkte Konsequenzen: Das Tempolimit auf Autobahnen wurde verschärft, der Kohleausstieg beschleunigt. Auch in Frankreich hat das oberste Gericht, der Staatsrat Ende 2020, die Regierung zu härteren Gesetzen verpflichtet. Im Mittelpunkt der juristische Auseinandersetzung stand Artikel L.100-4 des Energiegesetzbuches, der eine 40-prozentige Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2030 (im Vergleich zu 1990) fordert. Diese Ziele, die bisher als „Soft Law“ angesehen wurden und damit tatsächlich nicht zwingend binden waren, würden nun zu „Hard Law“ werden und den Staat verpflichten, konkrete Maßnahmen zur Reduzierung seiner CO2-Emissionen zu ergreifen.

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